Spazieren ist (k)eine Kunst

Fragmente aus der langen Stadt

2011-12-13

«Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen [1]», las Kleinfussgänger auf des Fussgängers Schreibtisch. Kleinfussgänger deutete ein paar Schritte an, lachte und meinte: «Ist doch ganz einfach.»

«Klar doch», erwiderte der Fussgänger. Und nach einer Pause: «Denk mal an den langen Spaziergang in der langen Stadt. Die Standseilbahn wurde gerade in dieser Woche geflickt. Ebenso der kleine Vorortszug in die Berge. Nichts klappte. Und doch wars ein vergnüglicher Nachmittag. Der Abgrund hinter dem hohen Zaun, die gestreifte Riesenmauer mit den Treppen, das grüne Ross (und später noch eins) und wie blinkende grüne Apothekenkreuze helfen, Eis zu finden. Nicht alle können das.»

«Die Eichen mit den falschen Blättern, die verschleipften Früchte der Rosskastanien, der Tunnel mit dem langen Lift (oben haben wir bemerkt, dass wir hätten bezahlen müssen), das Märchenschloss, die kleine alte Lok und die bemalten Wagen (dürfen die das eigentlich), der grosse Brunnen, der seine orangerote Farbe verlor», setzte Kleinfussgänger die Aufzählung fort. «Und den Weg vom Brunnen zum grossen Bahnhof habe ich fast alleine gefunden.»

Nicht dass Kleinfussgänger und der Fussgänger sich immer das Gleiche anschauten: Kleinfussgänger fand die Früchte auf dem Boden, nicht aber den Baum; der Fussgänger sinnierte über die alten Mauern, die wie ein «U» abfallende Strassen einfassen. Mit Doppeltreppen am oberen Ende ... Kleinfussgänger fand – den Baum entdeckt – einen plausiblen Grund: «Kinder haben sie mitgenommen»; der Fussgänger konnte nur mutmassen über Stadterweiterungen im 19. Jahrhundert und Recycling von militärischen Anlagen.

Im oberen Teil der langen Stadt produzierten die beiden fast alleine ihren Raum. Unten aber im Getümmel. Und gelangten in eine für den rädrigen Verkehr kurzzeitig gesperrte Strasse voller rausgeputzer Polizisten. Der Fussgänger schaute kurz, ob er da mit Kleinfussgänger durch soll – es sah nur nach hohem Besuch aus. Ein passendes Gebäude war auch da. Weiter hinten gleichwohl eine Gruppe gelangweilter Polizisten im Kampfanzug ohne gefährliches Zubehör. Später dann Kleinfussgänger: «Sah aus wie ein Fest, Hochzeit. Die hinten waren ziemlich gefährlich?!»

«Was ist mit dem Brunnen passiert?» Kleinfussgänger kannte den grossen Brunnen in leuchtendem orangerot. Nicht steinblass. Umrunden mussten sie ihn dennoch, zweimal, auf dem Mäuerchen. Allzu gross ist er nicht, der Platz mit dem Brunnen. Als Zentrum der Stadt nimmt der Fussgänger den Platz zwischen alt und eher neu dennoch wahr. Soweit eine lange Stadt das zulässt. Brunnenwasser-Färben im grossen Brunnen für besondere Anlässe – das erfuhr der Fussgänger erst später – ist beliebt in der langen Stadt. Ein leuchtendes Indiz für die zentrale Lage.

Die Geschichte mit dem Eis bedarf noch der Klärung, findet der Fussgänger. Tage zuvor während einer langen Busfahrt durch die lange Stadt zählte Kleinfussgänger die blinkenden grünen Apothekenkreuze. Die sind von weitem zu sehen. Und traten immer wieder so gehäuft auf, dass der Fussgänger mithelfen musste. Dazwischen lange Minuten gar nichts. Nicht mal andere Läden. Als auf dem langen Spaziergang die Lust nach Eis auftauchte, hielten die beiden Ausschau nach den Kreuzen. Mit Erfolg.

Link: Kleinfussgängers Fotografien

  • [1] Franz Hessel, Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen, Romanfürsorge Wuppertal, 2005 (1932)