Die fehlende Landschaft
Zum Ursprung des World Wide Web
2012-11-15
Seines ziemlich zufallsgetriebenen Spazierens leid, will der Fussgänger endlich einen bedeutungsvollen Ort besuchen. Einen Ort, berühmt durch eine Erfindung, die Folgen für des Fussgängers Leben hat und hatte. Einen Ort, den er zwar dem Namen nach kennt, der aber landschaftslos in seinem Kopf haust. Einen Erinnerungsort. So einen Ort will er zum Raum machen, will er spaziergängerisch vom Kopf auf die Füsse stellen [1].
Und bricht auf zum Ursprung des World Wide Web. Früh schon, als es noch ganz klein war, ist er dem Web begegnet. Falls der Fussgänger damals nach der zum Web passenden Landschaft gefragt worden wäre, hätte er auf ein Grossstadtviertel hinter dem Hauptbahnhof verwiesen. Im Pionierstadium der Gentrifikation.
Hinter dem Bahnhof bricht er auf. Und steigt hoch. Dass es hinauf geht, freut den Fussgänger. Denn er will ja Erhebendes sehen. Noch passt das alte Hinter-dem-Hauptbahnhof-Bild. Doch dann: Wohnen aller Art, von winzig-klein bis riesen-gross. Mit mächtigem Einkaufscenter. Der Fussgänger ist irritiert. Bevor er sein Bild anpassen kann, überquert er Autobahn, Eisenbahn und geht dem Flughafenzaun entlang. Und sieht grosse, allerdings neue, Glasfassaden-Bürogebäude. Vielleicht samt obskuren Briefkastenfirmen drin. Viel passender als das doch zu romantische Hinter-dem-Hauptbahnhof-Bild. Denkt der Fussgänger und ist zufrieden. Und alleine.
Zu Fuss ist kaum jemand unterwegs. Ein ausgedehntes Bekämpft-die Wohnungsnot-Viertel beansprucht jetzt des Fussgängers Aufmerksamkeit – eine durchaus brauchbare Ergänzung zu Verkehr und Glas-Architektur. Weit ist es nicht mehr, der Fussgänger hält schon Ausschau nach seinem landschaftslosen Errinnerungort. Und entdeckt Merkwürdiges: einen alten Dorfkern. Dann gehts plötzlich runter, die Stadt ist zu Ende. Äcker, Hochspannungsleitungen und nach der Mulde – es geht wieder hoch! – von links nach rechts Weinberge, ein Konglomerat von Gebäuden, Wald. Der Fussgänger wagt sich vor, geht an den verlassenen Grenzposten vorbei. Und schaut die nebelverhangenen Höhen des Gebirgs ...

Lange nach der Erfindung des World Wide Web hat sich des Fussgängers gefundene Landschaft [2] befreit: Die Autorität der Grenzposten wurde durch den Beitritt der Schweiz zum Schengen-Raum untergraben und – erquickend für des Fussgängers Füsse – das Tram, das er bisher verschwiegen hat, bindet seit gut einem Jahr die gefundene Landschaft an die Stadt. «Die Möglichkeit des Nicht-Ortes ist an jedem beliebigen Ort gegeben. [3]»
- [1] Anti-Plagiats-Hinweis: Ort-Raum nach Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin, 1988; Kopf-Füsse nach Friedrich Engels, Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, Berlin, 1962.
- [2] Das oberirdische Zentrum des CERN (Organisation Européenne pour la Recherche Nucléaire) liegt an und auf der Schweizerisch-Französischen Grenze in den Gemeinden Meyrin GE, Prévessin-Moëns (01) und St-Genis-Pouilly (01) in der Mitte zwischen Genfs Hauptbahnhof Cornavin und dem höchsten Juragipfel.
- [3] Halb, aber nur halb aus dem Zusammenhang gerissen. Marc Augé, Nicht-Orte, München, 2010.