Fla-Fla-Flanerie

Vierter und letzter Teil

 

ob Raumentprivatisierer

Dass ein Bahnhof so ein Zwitterding ist zwischen funktionellem und öffentlichem Raum, das fiel dem F ... eur schon früh auf. Ist öffentlicher Verkehr beschleunigter öffentlicher Raum, die Leute zum Zirkulieren verdammt? Der F ... eur zitiert vorerst aus der Hausordnung des HBs:

  • Die öffentlich zugänglichen Bahnhofhallen, Perrons und Fussgängerpassagen dienen ausschliesslich dem Fussgängerverkehr. Die Benützung in diesem Rahmen ist jedermann [ein Männerparadies!] gestattet.
  • Den Anordnungen des SBB- sowie des Ordnungspersonals sind Folge zu leisten.
  • Untersagt sind:
    Personenansammlungen, die den Fussgängerverkehr behindern;
    Darbietungen jeder Art;
    das Betteln; das Ausüben eines Gewerbes oder Handwerks, das Feilbieten von Waren, die Werbung, das Durchführen von Gaben- oder Unterschriftensammlungen sowie das Befragen von Reisenden ohne ausdrückliches Einverständnis der Schweizerischen Bundesbahnen;
    das Fahren mit Motorrädern, Mofas, Velos, Rollbrettern und Rollschuhen;
    jegliches Beschriften, Bemalen, Bekleben und Verschmieren von Böden, Wänden, Decken oder sonstigen Gebäudeteilen;
    das Nächtigen.

Also, denkt sich der F ... eur, grundsätzlich ist niemand ausgeschlossen, doch der Funktion eines Bahnhofs haben sich alle unterzuordnen. Sagen wir mal 2:1 für den funktionellen Raum. Und ein Punkt für sich fortbewegende Subjekte. Damit begnügen könnte sich der F ... eur, nur täte er damit seinen Erfahrungen unrecht. Sich bekannte Leute treffen sich mit oder ohne Absicht in grosser Zahl, darüber mag der F ... eur keine Worte verlieren. Sich nicht bekannte Leute kommen in unbekannter Zahl ins Gespräch. Dafür kann der F ... eur bürgen. Nebst Zirkulierenden, Einkaufenden, Sich-gezielt-Treffenden gibt es BahnhofbesucherInnen (der F ... eur meint hier nicht diejenigen, die ein Dach überm Kopf brauchen) und – dies könnte ein anregendes Untersuchungsthema sein – Wartende. Was machen zufällig Wartende, unbeabsichtigt Wartende, sicherheitshalber zu früh gekommene Wartende, verärgerte, zehn Sekunden zu spät gekommene Wartende?

oder schlicht Zuhörender,

Angemerkt sei: Die schon zitierte kompetente Stelle liess durchblicken, die SBB wünsche längere Aufenthalte in hausordnungskonformem Rahmen zwecks sozialer Kontrolle und fördere dies unter anderm durch Veranstaltungen gezielt. Denn ein Bahnhof sei systembedingt regelmässig schwach bevölkert. Schmunzeln liess den F ... eur die Erwähnung der letztjährigen Street Parade. Da hätten sich einfach zuviele Leute im Bahnhof getroffen und auf den Beginn gewartet. Etlicher Aufwand sei vonnöten gewesen, um Durchgänge freizuhalten.

Flanerie Zürich HB #7 (© 1996 Stefan Huber)

ob gequetscht Einkaufender

Enge. Ein zweifelhaftes Vergnügen ist der doch für PendlerInnen so praktische Einkauf in der HB-Migros, Abteilung Lebensmittel. Gilt für ausreichende Zirkulation im Bahnhofbereich ein Platzbedarf von 0,8 Quadratmeter pro Person als erforderlich, sind hier die Verhältnisse öfters enger, zudem Mensch mit Korb zwischen enggestellten Gestellen eigentlich Einbahnverkehr verlangen würde. Der (nicht nur) allabendliche Rückstau vor den Kassen betrachtet der F ... eur als Supplement. Fazit hier: Mensch ist ein geduldig Wesen, oder – das muss der F ... eur ökonomisch Gebildeten überlassen – die Kosten des Wartens und Geschubstwerdens machen den Lagevorteil nicht wett.

oder Hoffender;

Weite. Fotografisch versuchte der F ... eur tagsüber Menschen in Mehrzahl festzuhalten, die Lichtverhältnisse sind für den nicht professionell ausgerüsteten halt so. Gelangweilt hat sich der F ... eur. Gähnende Leere, zur halben Stunde aufgelockert, zur vollen Stunde endlich Leben. Die schon zweimal zitierte kompetente Stelle hat auch tagsüber Grund zu ihrer obigen Behauptung. Im Besitze einer «Bewilligung für nichtkommerzielle Foto-/Filmaufnahmen in Zürich Hauptbahnhof» hoffte der F ... eur wenigstens auf eine «Personalkontrolle» [!], bei der er das Schreiben hätte vorweisen müssen. Doch selbst diese Unterhaltung wurde dem F ... eur nicht gewährt.

ob langsam zum Schluss Kommender

Was nun beschäftigt den F ... eur? Erzählt hat er, mal ironisch, mal langweilig alltäglich. Gelästert hat er. Nur, auf die Schiene der Flanerie ohne «...» gelangt er nicht. All die gelehrten Abhandlungen erfüllen ihn zunehmend mit Abscheu, Ekel. Den Ausgangspunkt dieses Textes preiszugeben, dazu fühlt der F ... eur sich gedrängt. So kurz wie möglich: Flanerie als sozialwissenschaftliche Methode, Testgebiet Hauptbahnhof Zürich. Die Maske eines Detektivs als Einstieg ...

oder Gebräu-Destillierer,

Einen Text schreiben bedeutet reflektieren, das steht ausser Frage. Der Inhalt des Textes, das ist die Frage. Dass es sich hier nicht um Reflexion von gezielten Beobachtungen handelt, ist offensichtlich. Soweit durchaus Übereinstimmung mit all den «Flanerie-Theoretikern». Bleibt die sonstige Wahrnehmung, Erfahrung. Und die ist nicht einfach institutionalisiert, die lebt durch die Person; die (Lebens-)Geschichte ist so individuell wie ein Individuum sein kann, so kollektiv wie ein «Individuum» im Kollektiv lebte und lebt. Alle Erfahrung scheint, zumindest in der heutigen spätmodernen Gesellschaft zuerst individuell, lebensgeschichtlich. Ebenso offensichtlich ist, dass – gewisse Offenheit gegenüber Erfahrungen anderer vorausgesetzt – die Einzigartigkeit des Subjekts als Variation menschlichen Tuns und Daseins erscheint (jetzt bastelt er, der F ... eur, unausgegorenes Gebräu). Der F ... eur kann sich nur mit sich und seiner Geschichte über Wasser halten, das Kollektive in ihm ist nur durch Reflexion zu ergründen. So nähert er sich seiner Wahrnehmung, Erfahrung. So nähert er sich all dem nicht beabsichtigten, nicht gezielten Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken, dem nicht weiter definierten Empfinden. Dem Treibenlassen, dem Schmökern wie den «Abfall»-Erfahrungen, der «Ablenkung». Innerlich äusserst beschäftigt kommt wenig äusseres rein. Und doch hat gerade auch diese Mélange ihren Reiz; die unbeabsichtigte Mischung produziert ihre eigenen Bedeutungen. Zu trennen ist das nicht beabsichtigte, zufällig Reingeschlichene nicht völlig vom innern «Selbstversorgertum». Die zufällige Verbindung des F ... eurs Innenwelt mit der Aussenwelt ist seine Rechtfertigung. So lebt der F ... eur in seinen Aktivitäten unbelastet von den Baudelaires, Poes, Benjamins (inzwischen sind sie doch Teil der Innenwelt). Doch das Aussen muss das Innen stören können. Der zufriedene, glückliche, erfüllte Mensch kann nicht Subjekt der Flanerie und F ... rie sein. Nur das Gebrochene, Ambivalente kann Wurzel einer nicht gezielt beobachtenden Erfahrung sein. Behauptet der F ... eur, immer noch hässig und störrisch. Nun schweigt er, endlich. Überlässt sich dem Müssiggang.

er ist so klug als wie zuvor. Doch titelreiche, auflagenstarke, oft zitierte ...?

Flanerie Zürich HB #8 (© 1996 Stefan Huber)
  • [1] Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. – In: Benjamin Walter: Gesammelte Schriften Band 1.2 – Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, S. 509-690, S. 546.
  • [2] Benjamin 1991, S. 557.
  • [3] Poe, Edgar Allan: Der Massenmensch. – In: Edgar Allan Poe: Gesammelte Werke in 5 Bänden, Band 2. – Zürich: Haffmans. 1994, S. 229-241.
  • [4] Tester, Keith (Hrsg.): The flâneur. – London: Routledge. 1994.
  • [5] Voss, Dietmar: Die Rückseite der Flanerie. Versuch über ein Schlüsselphänomen der Moderne. – In: Scherpe, Klaus R. (Hrsg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Grossstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. – Reinbek: Rowohlt, 1988, S. 37-60, S. 40.
  • [6] zürityp vom 1.3.1996, S. 6.
  • [7] de Rattier, Paul-Ernest zit. in Benjamin 1991, S. 557.