Fla-Fla-Flanerie

Dritter Teil

 

ob gestelzt Daherredender

Erbauend schien dem F ... eur das folgende Zitat: «Der Flaneur ist letztlich kein Typus, sondern eine unbewußte Eigenschaft von allgemeiner Empfänglichkeit und Exzedierung, welche virtuell allen Menschen, von ihnen geschichtlich herausgearbeitet, eigen und erreichbar ist und in der industriellen Moderne des Kapitalismus und seinen Metropolen, von religiösen Überbauten befreit, eine offenbarende Kraft erwirken kann.» [5] Nachdem der F ... eur das Zitat mehrfach las, stach ihn seine Vergangenheit. In den Katholizismus reingetauft, blieb er sensibilisiert auf religiöse Formulierungen. Dass der F ... eur, vom religiösen Überbau befreit, das Zitat nicht einfach weglegte, lag am ominösen Wort «Exzedierung». Duden sei Dank: «exzedieren: (veraltet) a) Unfug stiften; b) ausschweifen, übertreiben». Von der Variante «Unfug-Stiftung» war der F ... eur besonders angetan. Da der F ... eur nicht ganz frei ist vom wissenschaftlichen Überbau, setzt er das Zitat in den Kontext. Also, weiter oben steht: «Die Masken des Flaneurs [...] schließen, psychoanalytisch betrachtet, häufig Züge von ödipalen Phantasmen ein. [...]. Der Flaneur wäre also vor allem von Ödipus zu befreien: von den Wahnbildern der Stadt als der bergenden bzw. verräterischen Mutter, als dem Ort der abwesenden Mutter [...]» Auf diese Weise befreit würde der Flaneur zur unbewussten Eigenschaft von allgemeiner Empfänglichkeit und Exzedierung.

oder Herz-Schmerz-Dichtender,

Es gibt sie, die überaus erfolgreichen Zitate, die in jedem zweiten Text zum Thema die Zeilen füllen – dem etwas entgegenzustellen drängt es den F ... eur. Insbesondere zur bislang ausgesparten Erotik. Statt Baudelaires «A une passante» (Inhalt: sehen, begehren, aus den Augen verlieren, literarisch aufbereiten) das unter dem Pseudonym «Chiffre MW057» im Tagesanzeiger veröffentliche Werk: «Freitagmorgen, 23. Februar. Wir beide sitzen im Zug nach Zürich. Du hälst ein Buch auf dem Schoss, ich eine Zeitung. Lesen tun wir beide nicht viel – zu sehr ist das Gegenüber anwesend. Immer wieder schenken wir uns ein Lächeln. Der Zug hält, wir wechseln die ersten Wort [!] ... und ohne nach Deinem Namen zu fragen und ein Wiedersehen zu vereinbaren, renne ich für drei Tage in die Berge davon. Seither gehst Du mir nicht mehr aus dem Sinn.» [6]

ob Erwachender

Es gibt Augenblicke im Leben des F ... eurs, in denen er, kurzzeitig befreit von seinen Erfahrungen, Altbekanntes neu sieht. Der Trick: erwachen. Konkret: Der F ... eur schläft gelegentlich im Zug, auf seiner Standard-Pendlerstrecke, intuitives Erwachen kurz vor dem Zielort eingeschlossen. Und hier geschieht es, zu selten leider: Häuser ziehen am F ... eur vorbei, er schaut, erkennt nicht die Stadt, sieht eine fremde, ihm unbekannte Stadt. Zehn, zwanzig Sekunden, und schon wird das glasklare Sehen von der Erinnerung an das Bekannte überkleistert.

Flanerie Zürich HB #5 (© 1996 Stefan Huber)

oder Ausholender,

Des F ... eurs Gedanken schweifen von diesen köstlichen Erinnerungen zurück zum Alltäglichen, zum Wieviel-es-braucht-bis-der-F ... eur-wirklich-staunt. Dazu holt er jetzt zünftig aus: Ein grosser Bahnhof lässt sich nicht einfach eingrenzen, begrenzen. Klar, Gebäuderand, Gleisfeldausdehnung, Vorplatzbegrenzung, all dies ist erkennbar, kann gemessen werden. Doch der F ... eur sitzt nicht im Grundbuchamt, er nutzt und benutzt den HB. Im einfachsten Fall steigt er um; aus dem nationalen Verkehrsteilnehmer wird ein lokaler Verkehrsteilnehmer. Die Reise jedoch fängt bei des F ... eurs Wohnungstür an, desgleichen sein ganz persönlicher HB. Die Zoologie zu Hilfe nehmend bezeichnet der F ... eur grosse Bahnhöfe als Kraken. Sterbende Bahnhöfe verlieren als erstes Arme, je weniger Arme, desto weniger Nahrung. Das Bild ist nun genug strapaziert. Also, der F ... eur verlässt seine Wohnung, geht die Strasse runter und kommt auf eine Kreuzung, so ungefähr beim ersten Saugnapf (der Krake hat seinen Dienst jetzt endgültig getan!). Hier geschah es, vor vierzig Jahren; der F ... eur ist ganz entzückt vom Anblick, der die Fotografie, die vor ihm liegt, bietet. Ein Lastwagen mit Tiefladeanhänger samt Raupenbagger hat die enge Kurve nicht hingekriegt. Der immer noch beladene Anhänger steht reichlich schief. Aufräumfahrzeuge sind ebenso anwesend. Und jetzt das aus des F ... eurs heutiger Sicht Besondere: Hunderte von Leuten stehen auf den Strassen, den Trottoirs, selbst auf dem steilen Grashang oberhalb einer sicherlich drei Meter hohen Stützmauer – echte Tribünenplätze. Offensichtlich ein Ereignis, das man/frau damals gesehen haben muss. Vierzig Jahre später braucht es stärkeren Stoff, zu gewöhnlich ist vieles geworden. So zum Beispiel eine brennende, touristisch verwertete Holzbrücke ...

ob Schaulustiger

Einen grossen Bogen geschlagen hat der F ... eur – wozu? In die Niederungen der Schaulust will er, weg von der literarischen Verwertung der Flanerie. Dazu zitiert er vorerst widersprüchlicherweise Literatur: «Der Flaneur, den man auf dem Pflaster und vor den Auslagen angetroffen hat, dieser nichtige, unbedeutende, ewig schaulustige Typ, der immer auf Sechser-Emotionen aus war und von nichts wusste als von Steinen, Fiakern und Gaslaternen [...]» [7] Hier kann der F ... eur aufatmen. Nichtig, unbedeutend sein ist seinem Selbstbewusstsein nicht gerade zuträglich, bedeutet jedoch auch «befreit von äusseren Erwartungen»; weder KleinbürgerInnen noch LiteratInnen können ernsthaft belästigen. So ähnlich wie in der Rolle des Touristen. Des F ... eurs Schaulust ist leider, leider das Grossereignis der in Brand geratenen Holzbrücke entgangen. Das Schicksal wollte es, dass er zum Zeitpunkt des Feuerausbruchs im Nachtzug Paris–Basel lag. Ein ästhetisches Vergnügen ist ihm entgangen. Noch schlimmer, dass er die mit dem Brand verbundene Veranstaltung «anschauliche Semiotik» nur in Leserbriefen und zwei, drei aufgeschnappten Gesprächen mitgekriegt hat. Sentimental ist das Vorwort, da hatten doch Leute ernsthafte Identitätskrisen, dem F ... eur schien, dass denen eine Welt zusammengebrochen sei statt Holz abgebrannt, das pikanterweise zum grösseren Teil in den 60erJahren eingebaut wurde (diese Pointe – nach dem Brand in einer Tageszeitung erschienen – muss der F ... eur teilweise fallenlassen. Nach neusten Erkenntnissen war das Brückenmaterial ein Sammelsurium aus vielen Jahrhunderten). Was da an Bedeutung dem Substrat aufgeladen und nicht mehr getrennt, das hätte materialisiert die Brücke längst zum Einsturz gebracht.

oder Sich-in-die-Sphären-der-Kunst-Begebender,

Nachdem sich der F ... eur freigeschlagen hat, kann er sich zwischendurch einem obergesellschaftlich angeseheneren Thema widmen: der Kunst. Hier unvermeidlich Kunst am Bau, was ja Warnung genug ist vor Aufgesetztem, Angeklebtem, Nachgeschobenem. Vor längerer Zeit beachtete der F ... eur die damals neue Installation, hoch oben hängend am Abschluss der grossen Halle, gleisseitig. Rot leuchtende spiralförmig geschwungene Linien, Rotwild, Vögel, Zahlen sah er. Wenig später wurden die Zahlen dem mathematisch ordentlich grundgebildeten F ... eur zu Fibonacci-Zahlen. Das «Zahlengeheimnis» gelüftet – der F ... eur vergass die Sache schnell und beachtete die Installation fortan nicht mehr. Pseudodynamisch dachte er beim Abschied. Wenige Jahre später – den Geisteshorizont inzwischen um Benjamins Flanerie erweitert – ging der F ... eur zeitvertrödelnd langsam durch die Halle Richtung Limmat. Und da sah er sie wieder, die roten Linien, als Spiegelungen in den vielen quadratischen Fenstern des Dauerprovisoriums am Ende der Halle. Die Scheiben nicht plan, des F ... eurs Gang so, dass seines Kopfes Höhe über Bahnhofboden sich rhythmisch um weniges veränderte. Wunderschön leuchtende Wellen, die sich wie ein geschwungenes Seil bewegten, aus dem Rahmen fielen und wieder eintraten, sich zu Kreisen verdichteten, die sich wiederum in Punkte auflösten. Die endlich dynamischen Linien. Als der F ... eur mehrmals langsam auf (fensterseits) und schnell ab (originalseits) ging, entdeckte er die zur Installation gehörende Tafel, versteckt an unerwartetem Ort: die Mauer des «Les Arcades», am limmatseitigen Ende, getarnt (oder schamvoll verhüllt?) durch einen der nicht ganz erklärlichen Sonnenschirme. Also stand zu lesen auf schwarz trauerberändeter Tafel: «Kunstinstallation / Das philosophische Ei / Mario Merz, Milano / Neon, Tierkörper, Fibonacci-Zahlenreihe 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55 ... / Aus Anlass von 700 Jahre Eidgenossenschaft 1991 erstellt als Gemeinschaftswerk von Kanton und Stadt Zürich, SBB und Vertretern der Wirtschaft.» Und dann, wahrscheinlich das Allerwichtigste, eine ellenlange Gönnertafel. Der F ... eur hat sein Wissen erweitert und hofft auf nicht baldigen Abbruch des Provisoriums.

Flanerie Zürich HB #6 (© 1996 Stefan Huber)

Fla-Fla-Flanerie – Vierter und letzter Teil