Fla-Fla-Flanerie
Erster Teil
2013-07-18
Ein erklärtermassen unausgegorenes Fundstück vom Winter 1995-96, entstanden im Rahmen eines Seminars am Geographischen Institut der Universität Zürich. Offensichtliche Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert.
Verwirrung,
Der «Flaneur» befindet sich im Zustand tiefster Krise. Was bedeutet überhaupt «flanieren»? Was darf so genannt werden, was nicht? Wer? Als der «Flaneur» eines Nachts von einer Demonstration träumte, bei der die Demonstrierenden «Fla-Fla-Flanerie» skandierten, reichte es ihm. Er entschloss sich, Übervater Benjamin in die Besenkammer zu stellen und sich vorderhand F ... eur zu nennen, ein F ... eur, der f ... iert.
Langeweile,
Wieso kam es zu dieser Krise? Als erstes fällt dem F ... eur der Ort des F ... ierens ein. Zürich Hauptbahnhof, welch exotische Adresse! Der F ... eur, als langjähriger Pendler, gähnt hinter vorgehaltener Hand und meint, dass das wirklich Überraschende, Verblüffende, das wirklich Neue fehle. Neu entdeckte Details, Nuancen aller Art, ja, doch das Staunen, die Faszination will sich nicht einstellen. Zu oft ist der F ... eur im HB gewesen, meist vom Zug zum Tram unterwegs und vice versa, gelegentlich einkaufend, gelegentlich wartend in der Halle, auf dem Perron, bevorzugt jedoch im «Les Arcades». Zu oft wars, als dass er echte Lust verspüren würde, sich einfach treiben zu lassen. So hat dann selbst das neu Entdeckte den staubigen Anschein des Alten.
mal fast ein Rausch:
In alten Zeiten, als der F ... eur unter Flanerie nicht mehr verstand als das ihn langweilig dünkende Spazieren entlang der Seepromenade, in diesen Zeiten, frei von akademischer «Flanerie», brach, wenn er sich recht erinnert, infolge eines Sturms oder heftigen Gewitters der ganze Bahnverkehr um Zürich zusammen. Der F ... eur, abends um halb neun von der Universität herkommend, kam ins Staunen. Hunderte, vielleicht auch tausende von Leuten (gezählt hat er sie nicht) standen in der Halle, bevorzugt in der Nähe der grossen Anzeigetafel. Die Zeit schien stillzustehen, die Leute dem Alltagsleben entrückt, erstaunlich gelassen die meisten. Obwohl es, im akustischen Sinn, verblüffend ruhig war, erinnerte die Szene den F ... eur an die Luzerner Fasnacht morgens um drei. Als endlich nach und nach der Bahnbetrieb wieder ins Rollen kam, die Informationen aus den Lautsprechern wegen dauernden Gleis- und Abfahrtszeitenänderungen des öftern Verwirrung auslösten, entstanden Szenen, die um einiges amüsanter waren als der Beginn von Jacques Tatis Film «Les Vacances de M. Hulot».
Doch ob Tourist
Doch zurück zum Alten, Bekannten. Die einzige Rolle, die der F ... eur kennt und gelegentlich mit Vergnügen und Staunen spielt, ist die des Touristen. Da erinnert er sich auch gern an Benedikt Loderers «Stadtwanderers Merkbuch». Nur hiesse dies «ab nach Moskaus grösstem Bahnhof», da war er noch nie, da hätte er (vielleicht nicht im Winter) das Vergnügen. Der F ... eur stutzt – wieso hat er «Tourist» notiert? Tourist und nicht Reisender oder gar Bildungsreisender? Schnell wird ihm klar, dass der oft abfällig gebrauchte Begriff «Tourist» vieles offen lässt. Falsch machen kann der Tourist wenig; denn wer sich an einem fremden Ort daneben benimmt, ist eben ein (vielleicht zusätzlich doofer) Tourist und handelt rollengerecht. Bildungsreisender tönt nach Daseinsgrundfunktion – flanieren und sich bilden?! –, Reisender nach philosophisch-theologischem Komplex.

oder Detektiv,
Der Trick, das scheinbar Bekannte, oder anders gesagt, das teilweise Bekannte durch nichtalltägliche Rollen neu zu sehen, ist anstrengend, mühsam. Als Detektiv Indizien eines unbekannten Verbrechens nachzurennen, ist als Vorstellung reichlich attraktiver. Was Flanieren sein soll, ist dem F ... eur zwar immer noch schleierhaft, doch Vergnügen zumindest soll es bereiten. Wenn Vergnügen oder gar Rausch ausbleiben (ist der Flaneur Hedonist?), was dann? Ein paar Erfahrungen des F ... eurs werden im folgenden angeschnitten in der Hoffnung, dass sich da ein Weg auftut.
ob Eilender,
(1) Der F ... eur durchquert gehetzt den Bahnhof, muss Zug oder Tram unbedingt erreichen. Nichts anderes beschäftigt ihn. Durchschlängeln, ausweichen, fastzusammenstossen; alle stehen ihm im Weg. Ein dauernder Versuch vorauszusehen, was die Leute vor ihm beabsichtigen: links abbiegen, hakenschlagen nach rechts, den Schritt verlangsamen, gar den Koffer querstellen ... Wenn der F ... eur sich nachträglich die Szene vor Augen hält, kann er einiges über die Möglichkeiten, sich im Bahnhof fortzubewegen/herumzustehen, sagen. Der Grund ist naheliegend. Der F ... eur in der Rolle des Eiligen hat seine ganze Konzentration der Fortbewegung der Sich-ihm-in-den-Weg-Stellenden gewidmet, nicht als Zweck, sondern als Mittel zum Zweck «schnell vorwärts zu kommen».
in Eile Wartender
(2) Der F ... eur steht hungrig am Bahnhof, will noch ein Sandwich vom Stand beim Gleis 3; der Einzige ist er nicht. Version eins: Der Zug fährt in fünf Minuten. Version zwei: Der Zug fährt etwas später. Unterschied: die Gefühle des F ... eurs. Kommentierte Beschreibung nach Version eins mit der Erkenntnis: Der Mensch hat nur zwei Hände. Gewisse Leute wissen sie einzusetzen. Oder dann eben: Überdimensionierte Tasche auf dem angehobenen Knie. Öffnen der Tasche. Geldbeutel suchen. Tasche knapp vor dem Fall gerettet. Endlich die grösste, je gedruckte Banknote gefunden. Retour annähernd die Gesamtausgabe der Nationalbank. Wie kriegt man/frau das wieder in den Geldbeutel? Schliesslich ist die Tasche geschlossen in der Linken, das Sandwich in der Rechten. Was bleibt, ist der Kaffee auf dem Tresen ... Solche Szenen sind, wenns nicht eilt (Version 2), durchaus köstlich.
oder Norm-Ankratzender;
(3) Abends um acht mit einer Weinflasche, als Gastgeschenk gedacht (zur Ehrrettung des F ... eurs) durch den Bahnhof oder am Nachmittag vor dem Abfallkübel, die Jackensäcke von Papierkram entleerend, der dringend gebrauchte Kugelschreiber fällt rein und muss wieder raus ... Beim einen wie beim andern: Plötzlich, die Blicke spürend, die spitzen Bemerkungen hörend, ahnt der F ... eur, wie der sogenannte Rand der Gesellschaft in der Öffentlichkeit sich anfühlen könnte.
ob Verwerter von Abfalleindrücken
Das Gemeinsame dieser Erfahrungen ist, dass der F ... eur etwas macht, das durchaus Rolle genannt werden kann, Rollen, deren Ursprung zwar sowas wie Handlungsentwürfe sind. Ob unauffällig aktiv wie beim Anstehen oder Gehen, ob auffällig aktiv wie beim Kübeldurchackern, ob auffällig passiv wie beim offenen Weinflaschentragen: Entweder ist die Wahrnehmung durch Konzentration geschärft oder wird durch Reaktionen anderer geschärft. Durch die Reaktion anderer entsteht eine besondere, nicht alltägliche Situation, nur diesmal kaum so vergnüglich wie beim Verkehrszusammenbruch. Der F ... eur denkt hier eben nicht ans Vergnügen, sondern wertet Nebenprodukte des Alltäglichen aus. Nebenprodukte ergeben sich nicht aus Reflexion, sie treiben dahin. Wie der Flaneur (keine Ohrfeige, Walter!).
oder boshafter Spieler,
Ein ganz anderes Spiel. Der F ... eur müde im «Les Arcades», der Zug ist ihm vor der Nase weggefahren. Das Buch, das er endlich zu Ende lesen sollte, liegt, da die Augen tanzen, mehr pro forma offen auf dem Tisch. Die Augen schweifen umher, bleiben am Paar, das am Tisch vis-à-vis sitzt, hängen. Das Paar miteinander sprechend, der F ... eur kann nichts verstehen. Der Unbekannte sehr ernst, die Unbekannte lacht gelegentlich. Beide konventionell elegant gekleidet. Der übermüdete F ... eur schreibt den beiden spontan Rollen zu. Sie Geschäftsfrau an der Bahnhofstrasse, wohnhaft im sogenannten Grünen. Er aus irgendeiner helvetischen Kleinstadt, hatte eine Sitzung im Hauptsitz seines sogenannten Arbeitgebers. Beide verheiratet, geheime Liaison. Seine Frau schöpfte Verdacht. Der F ... eur schaut inzwischen gespannt, ob Mimik, Gestik und einzelne verstandene Wortfetzen mit den zugeordneten Rollen in Einklang zu bringen sind. Dramaturgie à la Dürrenmatt. Was sagt sie ihm plötzlich leise? Er zuckt leicht. Ein Mordplan?
