Fla-Fla-Flanerie
Zweiter Teil
ob Detektiv (nicht schon wieder!)
Doch zur zumindest vorläufigen Rettung des gezielten Versuchs, mit finsterem Detektivblick durch die Bahnhofgegend zu ziehen, folgendes: Nach ausgiebigem Anblick purer Normalität (das ist es ja gerade, der F ... eur empfindet fast alles als «normal», alltäglich; kaum etwas erstaunt) schnappt der F ... eur eine mehr als kryptische Bemerkung zweier Wachmänner ohne Hund auf: «Der Hund ist ... Schnauze ...» Der F ... eur verfolgt die beiden – die, wie sichs gehört, gemächlich aber unaufhaltsam, die Passanten ausweichen lassend, mit gestrecktem Rücken, kurz, das übliche respekterheischende Gehabe zeigend – durch die Halle, dann runter zur «Piazza» (welch dämlicher Name) und weiter durch die Gänge. Natürlich ging der F ... eur nicht hinterher, sondern mal seitlich, mal voraus, nahm den Lift mit der schönen Aussicht, als die beiden die Rolltreppe benutzten. Schliesslich ist er ein Cliché-Detektiv aus dem Buche. Folgendes sah der F ... eur: Die beiden Wachmänner markierten, soweit er es beurteilen konnte, nur Präsenz. Alltagsjob. Passanten haben auszuweichen, wobei der langsame Gang der Wachmänner die aggressive Präsenz entschärfte. Gewisse Personen wichen in grossem Bogen aus, um die nächste Säule, um die Treppe, in die nächste Passage, hinter eine Gruppe von Leuten ... Des Detektivs zu ziehender Schluss: Hier wird Theater gespielt. Die grosszügig Ausweichenden wollen nicht gesehen werden, die Wachleute wollen nicht sehen, alle wissen, was sie spielen.
oder Absichtsloser,
Des F ... eurs vorläufige Krisenanalyse: Flanieren (ohne «...») tut der F ... eur gelegentlich, doch ohne ersichtliche Absicht. Dann lässt er sich wirklich treiben, solange es Vergnügen bereitet. Macht er dies jedoch absichtlich, dann spielt er nur die Rolle des Flaneurs (der F ... eur verzichtet hier auf Indices Hardscher Art; soweit hat er die Sache noch nicht durchdacht). Über das Erlebte reflektieren tut er ebenso zufällig. Plant der F ... eur die Reflexion, reflektiert er schon beim Flanieren. Und somit bleibt Schall und Rauch, bestenfalls. Absurde Rollen kann der F ... eur ebenso spielen. Aber gleichfalls ohne Absicht.
ob Wahrnehmender
Beim Grübeln über Flanerie und F ... erie fällt dem F ... eur dauernd das Wort «Wahrnehmung» ein. Dass es Wahrnehmung pur, unverfälschte, nicht gibt, weiss der F ... eur. Zu sehr sind ihm Teile seiner Sozialisation bewusst. Was ihn bewegt, sind die «Abfall»-Eindrücke, die unbeabsichtigten Nebenprodukte seiner Handlungen.
oder Neugieriger,
Neugierde, fällt dem F ... eur plötzlich ein, da steckt was drin. Neugierde lässt den F ... eur in der Rolle des Touristen sich prächtig fühlen. Und Neugierde ist eine Mischung aus Wissen und Unwissen. Ohne Wissen nimmt er nicht wahr; wenn er alles weiss, ist er gelangweilt. Das eine wie das andere gibt es in dieser Absolutheit nicht, doch zwischen diesen Polen spielt sich alles ab.
ob in Gesellschaft älterer Herren
Als im Publikumsbereich des HB noch fleissig gebaut wurde, war der F ... eur öfters ein wenig zu zeitig am HB. Schliesslich hätte ja der entscheidende sekundenschindende Zugang gesperrt sein können. Natürlich musste der F ... eur – wer ahnt es nicht? – kurz oder auch mal länger die Bauentwicklung begutachten. Dabei befand er sich meistens in Gesellschaft älterer Herren. Sind das die echten? Zweifel. Wie Marx den Hegel, stellen die älteren Herren den Benjamin auf den Kopf, betrachten das Neuentstehende im Alten, nicht die Spuren des Alten im Jetzt. Anmerken muss der F ... eur nun noch, dass er in Unkenntnis der Baupläne war. Hätte er Kenntnis gehabt, hätte er sich eines wesentlichen Teils des Vergnügens beraubt. Denn über das Anforderungsprofil eines Bahnhofs weiss er genug.

oder in Benjamin Walters;
«[...] Verwischung der Spuren des Einzelnen in der Großstadtmenge» [1], brabbelt plötzlich der ruhiggestellte Benjamin aus der Besenkammer. «Na ja», denkt der F ... eur, «ewig kannst du den nicht zum Schweigen bringen. War ja auch nicht ganz fair. Aber ihm eins auswischen, allemal.» Anfälle von Schalk hat der F ... eur nicht oft. Sonst würde er sich gewiss Flaneur ohne «...» nennen. Sei es wie es ist, während eines solchen Anfalls lächelte der F ... eur – lang ists her – freundlichst in jede Überwachungskamera; der HB ist voll davon. Nicht weil er sein Spiegelbild bewunderte, dafür ist die Linse zu klein. Nein, der F ... eur stellte sich einen ihm unbekannten Raum vor, voller Bildschirme, über die ein Augenpaar schweift. Edgar Allen Poes «Massenmensch» im Warenhaus wäre heutzutage locker ohne superleise Gummisohlen zu beobachten. Ketzerisch meint da der F ... eur, statt unauffällig unterm Regenschirm virtuell hinterm Bildschirm, das sei flanieren im ausgehenden 20. Jahrhundert. Im World Wide Web rumsurfen, das könne durchaus rauschhafte Züge annehmen. Und surfen sei eh das gleiche wie sich treiben lassen. Einzig Masken brauche es nicht mehr zwingend. Promenierende, Bildungsreisende, PhysiognomikerIn, DetektivIn, keine und keiner brauche so zu tun! Ja, ja, schreit der F ... eur, den erneuten Zwischenruf aus der Besenkammer aufnehmend, der Benjamin habe ja tagelang in dicken Wälzern rumgesurft, tschuldigung, geblättert. Internet oder Bibliothek, es spiele keine Rolle, das eine habe eben zu seinen Zeiten noch nicht existiert. Das mit den Masken nehme er auch zurück. Computerfreak und Bücherwurm seien auch gesellschaftliche Rationalisierungen; darunter könne der Flaneur möglicherweise verborgen sein. Punkt. Nach dieser Anstrengung in Ruhe des F ... eurs Ergänzungen zu Video, Massenmensch und Geschlecht.
ob Fernüberwachter,
Video. Die Videoüberwachung liess den F ... eur ruhelos; er musste sich an kompetenter Stelle erkundigen. Die Aussage der kompetenten Stelle: Oberirdisch keine, im unterirdischen Gleisbereich die Gleiskanten, dazwischen ziemlich intensiv, wobei hier Leute der Kapo zuständig seien; SBB-Leute könnten sich aber zuschalten. Aufgezeichnet werde nur auf besonderen Antrag.
in der Masse Ersaufender,
Massenmensch. Auf das englische Original von «The Man of the Crowd» mag der F ... eur nicht zurückgreifen, wo käme er da hin. Mit Amusement hingegen hat er Benjamin mit Hans Wollschlägers Übersetzung von 1966 verglichen. Benjamin [2] schreibt vom viel besuchten Kaufhaus und zitiert dann die Baudelaireübersetzung: «[Der Mann der Menge] ging von einem Rayon zum andern [...]». Benjamin fragt sich auch – und lässt die Frage offen – ob es vielstöckige Warenhäuser zu Poes Zeiten gab. Wollschläger [3] schickt den «Massenmensch» (seine Übersetzung des Titels) auf einen «grossen und betriebsamen Basar» und der betritt «Laden um Laden». Wollschlägers Übersetzung lässt den F ... eur sich an heutige Markthallen in England erinnern, die neben Lebensmitteln unzählige andere Sachen im Angebot haben, beispielsweise antiquarische Bücher. Solche Verkaufsstellen sehen eher wie halboffene Läden denn Stände aus. Diese Markthallen empfindet der F ... eur als einiges öffentlicher als moderne Warenhäuser. Angenommen, Poe schickte den Massenmensch in eine alte Ausgabe dieser Markthallen, dann büsst Benjamins Folgerung «Wenn die Passage die klassische Form des Interieurs ist, als das die Straße sich dem Flaneur darstellt, so ist dessen Verfallsform das Warenhaus. Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs.» einiges an Brillanz ein.
Mann oder Frau,
Geschlecht. Während der heftigen Auseinandersetzung mit Benjamin hat der F ... eur gemogelt. «PhysiognomikerIn», «DetektivIn»: Benjamin konnte das grosse «I» nicht kennen. Soweit aber der F ... eur, zum Thema nicht umfassend belesen, über Flanerie las, soweit kamen ihm nur Männer entgegen, flanierende und/oder über das Flanieren schreibende Männer. Sind da Frauen mitgemeint? Oder gibt es nur männliche «Müssiggänger», «Bummler» (typische Wörterbuchübersetzung). Ein neuerer englischer Buchtitel heisst «The flâneur» [4], kein Wort von «flâneuse», die als deutschsprachige «Bummlerin» französischsprachig so hiesse.
